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TAL
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DIEDERICHS „THE BERLIN NOT-BOOK“
G e m u r m e l a u f ‘ m K n e i p e n t i s c h
Nun, irgendwie kennen wir das aus unserer Jugend ja alle
noch: Man trifft sich mit einigen Kumpels, dreht mit dem Hacken ein
Loch in den Dreck und versucht dann, mit kleinen bunten Glaskugeln
möglichst viele davon in eben jenes Loch zu versenken. Das Kinder-
vergnügen ist schon aus babylonischer Zeit bekannt und man nennt es
heute zumeist Murmeln; regional unterschiedlich aber auch Duxern,
Üllern, Wetzen oder Märberln. Im Bergischen ist es eher als Knickern
bekannt. Irgendwann ist dann der Spaß vorbei und man wendet sich
anderen fröhlichen Freizeitbeschäftigungen zu; man bricht Kaugummi-
Automaten auf; zündet das Schulwäldchen an; oder … oder… oder.
Im Glasbierfachgeschäft seines Vertrauens hingegen trifft der
ITALIEN-Korrespondent nahezu stets auch auf eine Gruppe infantiler
Altvorderer, die sich aus dieser Lebensphase noch nicht befreit haben
und sich auf der gegenüberliegenden Verkehrsinsel immer noch regel-
mäßig die Kugel geben. Natürlich sind die Kugeln mitgewachsen, und
weil es so große Absätze gar nicht gibt, ist dafür das Loch entfallen. Nun
heißt die Sache Boule und wird selbstverständlich für ernsthaften Sport
gehalten. Ausgerüstet mit Maßbändern, Besen und Laubrechen geht es
dann verbissen zur Sache.
Natürlich ließe sich jetzt einwenden, dass griechische Ärzte
– u..a. auch Hippokrates – bereits 460 v. Chr. das Rumkugeln (seiner-
zeit noch mit gerundetem Gestein) empfohlen und verschrieben haben.
Heute hingegen ist es leider rezeptfrei.
Aus dem 2. Jh. n. Chr. hinwiederum ist bekannt, dass Iulius
Pollux einen Unfug beschrieben hat, bei dem Kugeln auf einen Ziegel-
stein geworfen wurden und der Verlierer den Sieger auf den Schultern
ins Ziel tragen musste. Na, das wäre doch auch im Kreuzberger Süd-
sternkiez mal was. Da gäbe es schon einiges zu lachen. Egal, solange das
stundenlange Rudelbolzen im Freien stattfindet, kann es den braven
Trinkern ja letztlich schnurz und piepe sein. Kopfschütteln mag da rei-
chen.
Doch man stelle sich nur mal den Schrecken vor, als der Be-
richterstatter neulich frohgemut seinen alkoholischen Unterschlupf
betritt. Ob des zunehmend miesepetriger werdenden Wetters haben
Doris H. und Klaus T. irgendwo und irgendwie ein Spiel mit Winzku-
geln aufgetrieben und das ganze Geklapper nun in ein Indoor-Boule
verwandelt. Für den Spuk ist ausgerechnet der Mitteltisch mit einer
grünen Decke sorgfältig abgedeckt und fungiert nun als Verkehrsinsel.
Der Streetworker Udo K. und der Mann von ITALIEN, dem Bucker-
Magazin für betagte Kindereien, sind sich f lugs einig: „Ganz klares
Suchtverhalten“! Siegfried „PDS-Siggi“ D., Gesundheitsbeauftragter
seiner Partei, indes ist sofort begeistert und hat wie immer lautstarke
gute Ratschläge. Als dann auch noch Ellen L. die Bühne betritt, ist
sogar ein zweites Team komplett und nun gibt es kein Halten mehr. Um
keine größeren Verletzungen durch herumschwirrende Schrappnells zu
riskieren, verziehen sich alle Vernüftigen in den einigermaßen sicheren
Tresenbereich. Selbst Barbara „Babs“ S., einer ruhigen Kugel gemeinhin
nicht abgeneigt, schüttelt nur den Kopf: „Die spinnen doch echt!“ und
auch Karin M. kann der Sache nix abgewinnen. Gut so. Brav. Recht
haben die Mädchen.
Sehen wir uns die Akteure also einmal etwas genauer an: Seit
rund acht Jahren haben sich die Ballermänner und –frauen vom Süd-
sternkiez in einem Verein mit eigener web-site organisiert. Und diese
nun ist ein einziges Lügenmärchen. Da liest man zum Beispiel erstaunt,
es gebe „keine festen oder regelmäßigen Spielzeiten“. Oh doch: Jeden
Nachmittag – unterdessen sogar auf dem Kneipentisch. Oder es gehe
darum, sich mit Freunden zu treffen und „ein Glas Wein zu trinken“.
Alles Quatsch: Mehrheitlich tut man sich mit Billigbier vom nahegele-
genen Imbiss einen rein.
Den Vereinspräsidenten hat man schon seit Ewigkeiten we-
der in der Freiluftarena noch am Tresen gesehen. Die im großen www.
amtierende Vizepräsidentin bestreitet auf Nachfrage jegliche Verant-
wortung. Der Kassenwart Norbert B. hat sich gerade wieder einmal für
längere Zeit nach Thailand abgesetzt – er darf somit als f lüchtig gelten.
Im Grunde ist die ganze Sache also ein einziger Skandal!