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TAL
IEN
N i e t e n f ü r N a d e l s t r e i f e n
Der schmächtige Kellner gähnte. Nun tagten die da drinnen bereits
seit sieben Stunden. Er klopfte kurz an, stemmte mit beiden Händen ächzend
die schwere Eichentür auf und schob seinen Servierwagen in den Konferenz-
raum. »Noch ein Tässchen Hühnerbrühe, die Herren?«
Doktor Gilb winkte wortlos ab. »Dann wären wir soweit durch?« fragte er ins
Rund. Die Vorstandsmitglieder nickten, und Gilb erhob sich aus dem mächti-
gen Konzernchefsessel. Jetzt konnte er noch so eben über die Tischkante gu-
cken. »Schön«, grinste er zufrieden. »Sehr schön. Ich finde, das muss gefeiert
werden! Oder?«
Die Vorstandmitglieder nickten energisch. Finanzdirektor Simpelfa-
cher regte an, in Anbetracht der soeben gefassten Beschlüsse die Feierlichkeiten
im angemessenen Rahmen zu halten. Der Vorschlag fand die ungeteilte Un-
terstützung von PR-Direktor Worps-Wedel. Den Medien wären die gewiss not-
wendigen, aber für den beteiligten Betrachter unter Umständen einschneidend
erscheinenden Maßnahmen sicherlich leichter zu vermitteln, wenn die Konzern-
leitung mit einem positiven Beispiel an Bescheidenheit voranginge.
Doktor Gilb nickte. »An mir soll‘s nicht scheitern! Jemand ‘ne Idee?«
Personalvorstand Schneider, immer für einen Spaß gut, führte an, dass sich
momentan die Schausteller in der Stadt befänden und schlug mutig vor, die
Gelegenheit sozusagen beim Schopfe zu packen und sich unter den Pöbel zu
wagen. »Beschlossen!« strahlte Doktor Gilb. »Wir machen einen Bummel über
den Rummel!«
Es war zehn Minuten vor Mitternacht, als die Herren Vorstandsmit-
glieder – nach einigen Achterbahnfahrten am Bierstand – in recht angeheiterter
Stimmung vor einer unansehnlichen Losbude zu stehen kamen. Der Lack blät-
terte in groben Fetzen, und auf einem kaum zu entziffernden Pappschild stand
in steiler Sütterlinschrift: »Lotterie der schweren Lose«. Der greise Besitzer war
gerade im Begriff, die morschen Läden zu schließen.
»Versuchen wir unser Glück!« Doktor Gilb zückte berauscht seine Briefta-
sche.
»Fordern Sie es nicht heraus«, mahnte der Alte mürrisch. Offensicht-
lich war er gar nicht gewillt, ein Geschäft zu machen.
»Kommen Sie! Geben Sie uns ‘ne Chance!« drängte der kleine Vor-
standsvorsitzende schwankend. »Wir haben den ganzen Tag schwer gearbeitet.
Jetzt wollen wir auch mal unseren Spaß.«
»So?« Der Alte bekam ein seltsames Blitzen in den Augen. »Was haben Sie denn
heute so geleistet?«
»Nun...« Doktor Gilb war über die ungewohnte Gegenfrage etwas
verwirrt. Aber dann hatte er sich rasch wieder im Griff. »Wir haben heute den
Konzern konsolidiert! Sozialleistungen zurückgebaut! Arbeitnehmer freigesetzt!
Alles ratzekahl dereguliert!« grölte er. Die Vorstandsmitglieder nickten stolz.
Der Alte hielt ihm einen kleinen Lostopf hin. »Sie sollen Ihre Chan-
ce haben«, sagte er, um leise anzufügen: »Und Ihren Spaß...«
»Beschlossen!« triumphierte Doktor Gilb. »Ich tu ‘ne Runde Lose
aus, meine Herren!« Er wedelte aufdringlich mit einem Tausendmarkschein.
»Wieviel bekommen wir hierfür?«
Der alte Losbudenbesitzer stieß die Hand mit dem Schein von sich,
als wäre der ansteckend. »Jeder bekommt nur ein Los«, brummte er unwirsch.
»Sein Los. Und das gibt‘s umsonst.«
Doktor Gilb dachte für einen Moment daran, auf seine Stellung,
seinen Einf luss und überhaupt auf sich hinzuweisen. Aber dann fügte er sich
kleinlaut und war wieder ganz Souverän. »Bitte. Dann eben jeder nur eins. Sie
zuerst, Simpelfacher!« befahl er. Der Finanzdirektor griff in den Eimer und zog
desinteressiert ein Los.
»Und?« fragte Doktor Gilb neugierig.
»Niete«, brummte Simpelfacher.
»Zeigen Sie mal her!« Gilb riss das Papier an sich. »Aber hier steht
doch was drauf! Hier steht Herzlos!«
Simpelfacher riss eine Büchse Bier auf. »Sag ich doch. Niete.« Der alte
Losverkäufer grinste. »Wagt ‚s noch jemand?« Der Konzernchef schob Schneider
vor. »Jetzt Sie!« Der Personalvorstand langte wie befohlen in den Topf.
»Nun? Was steht drauf?« drängte Doktor Gilb.
»Kinderlos«. Schneider zerknüllte den Papierfetzen und trat ihn wü-
tend in den schlammigen Grund des Kirmesplatzes.
»Sagen Sie mal«, fuhr Doktor Gilb den Losbudenbesitzer an, »haben
Sie eigentlich nur Nieten?«
Der Alte lächelte. »Jeder bekommt das Los, das er verdient.«
»Also her damit!« Worps-Wedel trat entschlossen vor. Ergebnis der
Ziehung: Arbeitslos. »Der bescheißt doch nach Strich und Faden!« empörte sich
der PR-Vorstand.
»Das wollen wir doch mal sehen!« Doktor Gilb griff entschlossen in
den Eimer. »Das wollen doch mal wirklich sehen, wer hier die Geschicke be-
stimmt!« tönte er. »Wir oder die Wirtschaft oder wer!« Trotzdem war er etwas
nervös, als er das Los aufknibbelte.
»Und?« fragten die übrigen Vorstandmitglieder.
»Witzlos!« lachte der Konzernchef. Zum letzten Mal.
Tags drauf verlor Worps-Wedel seinen Job, Schneider wurde impo-
tent und Simpelfacher erlitt einen finalen Herzinfarkt. Und Doktor Gilb konnte
nicht mal drüber lachen...
Rüdiger Grothues