OnlineItalien 04.2023

14 ITALIEN Als ich vor 50 Jahren aus der Kirche austrat, waren die Gotteshäuser noch gut besucht, aber ich war dem Satan verfallen und wollte die 11 Mark 50 Kirchensteuer lieber in Zigaretten und Wicküler Pils anlegen. Mein Vater hatte nichts dagegen, er konnte nach seinen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg mit Gott eh nichts mehr anfangen. Meine Mutter hatte wegen den Nachbarn leichte Bedenken. Mein älterer Bruder verriet mir die Zimmernummer im Rathaus. Auf der Tür stand tatsächlich „Kirchenaustritte“. Ich muss gestehen, ich war ein wenig aufgeregt, als ich ins Amtszimmer trat. Zwei typische Beamte, sie trugen auch noch diese schwarzen Ellbogenschoner, ignorierten mich zunächst, aber das hatte mein Bruder mir schon erzählt, ich sollte einfach still warten, dann würden sie mich irgendwann ansprechen. Genau so war es auch. Ich hatte vor Aufregung eine ganz trockene Kehle, aber irgendwie kam das Wort Kirchenaustritt dann doch über meine Lippen. Ohne eine Miene zu verziehen bearbeitete der Mann langsam, aber routiniert den Verwaltungsakt. Ich musste irgendwas abgeben, fragen sie mich nicht was, wahrscheinlich meinen Personalausweis. Zum Schluss reichte er mir, ohne aufzublicken, ein Schreiben für meinen Arbeitgeber. Danach fuhr ich vor Freude erstmal eine gute Stunde Paternoster und kaufte mir ein Eis, das hatte ich mir verdient. Heute kann man sagen, der Glaube in unserem Land wackelt ganz erheblich. Kirchen bleiben sonntags fast leer, werden geschlossen oder verkauft und eine Nutzungsänderung fällt nicht immer leicht, eine Sanierung und Umbau für andere Zwecke ist kaum finanzierbar. Im Jahr 2021 haben die evangelische und katholische Kirche so viele Mitglieder wie noch nie verloren. Insgesamt lag der Verlust bei mehr als einer Million Menschen. Die Ergebnisse für 2022 sind noch nicht abrufbar, aber sie werden sich ähnlich lesen. Das heißt, weniger als die Hälfte der Deutschen sind kathoP U N K R O C K I N D E R M O S C H E E v o n U w e B e c k e r lisch oder evangelisch. Bei Schalke 04 sieht das alles schöner aus. Haha, Spaß beiseite, die können ja spielen wie sie wollen, bei der ruhmreichen Glaubensgemeinschaft aus dem Kohlenpott tritt so schnell keiner aus, obgleich die Gläubigen dort auch oft mit dem Fußballgott hadern und an ihm verzweifeln. Im Moment schöpfen sie wieder ein wenig Hoffnung, aber grundsätzlich ist ihr Glaube fest verankert, es sei denn, Messias Felix Magath würde zurückkehren und ein neues, düsteres Testament beim Deutschen Meister von 1958 schreiben. Danach sieht es aber Gott sei Dank nicht aus. Ganz anders bei unseren türkischen Gläubigen: Hier ist die kleine Moschee an der Gathe inzwischen zu klein geworden. Das niedliche, kleine Türmchen im Innenhof der Gemeinde gefiel mir immer sehr gut, inmitten der einfältigen anderen Bauten. Nun plant man direkt gegenüber einen Neubau mit Kindertagesstätte, Wohnungen und Gastronomie. Bei den Muslimen wird voluminös gebaut, davon können Katholiken und Protestanten nicht mal träumen. Allerdings würde das Haus, in der sich das Autonome Zentrum befindet, dem Abriss zum Opfer fallen. Ich persönlich finde es bedauerlich, wenn das Zentrum verschwindet. Warum also nicht das Autonome Zentrum mit in das Neubauprojekt einbeziehen? Nun, so weit will sich die Ditib-Gemeinde wahrscheinlich nicht, wie versprochen, für alle öffnen. Und auch das Autonome Zentrum würde dies niemals wollen, zu stark ist die Feindschaft mit den Erdogan-Gläubigen. Mir harmoniebedürftigem Träumer und Versöhnungstheoretiker gefällt aber die Vorstellung, wie direkt neben der imposanten neuen, großen Moschee, in friedlicher Koexistenz, ein kleiner weißer, autonomer Flachbau, geschmückt mit kleinen, liebevoll gestalteten und dezenten Graffitis, Platz findet, obwohl von dort zuweilen knallhart dröhnende Punkmusik erschallt, die sich im sportlichen Wettstreit mit dem Muezzin misst, der die Gläubigen fröhlich zum Gebet ruft. Me i n Ko l umnen - Buch Te i l 2 g i b t ’s exk l us i v i n den Buchhand l ungen Von Mackensen, G l ück sbuch l aden i n E l be r f e l d und i n Unt e r ba rmen i n Ju t t a L ückes Büche r l aden. Ode r pe r Pos t d i r ek t be im Er zeuge r bes t e l l en, s i gn i e r t und mi t He r zchen: i t a l i en.magaz i n@t - on l i ne

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