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TAL
IEN
D a s n e u e H a u s t i e r
v o n E u g e n E g n e r
In der Zoohandlung fiel mir ein fremdartiger amselgroßer
Vogel auf. Weit davon entfernt, ein Ornithologe zu sein und die Zulas-
sungsnummern der heimischen Vögel in meinem Garten zu kennen,
wußte ich doch ungefähr, welche Vogelarten es gab, und so etwas wie
diesen hatte ich nie zuvor gesehen. Keinerlei exotische Prächtigkeit
zeichnete ihn aus, sein Gefieder war vielmehr schlicht schrankfarben,
die Hälfte der Federn bestenfalls Zweite Wahl, auch der Schnabel bot
nichts Spektakuläres. Daß mir der Vogel so besonders und fremdartig
erschien, lag vermutlich daran, daß er an zusammengeknülltes Papier
oder, im Profil, an einen (toten) Zustarbes erinnerte. Ich fragte den Ver-
käufer und erfuhr, dies sei ein „Formalhuhn“. „Sieht aber überhaupt
nicht aus wie ein Huhn“, staunte ich. Der Verkäufer meinte: „Sie haben
doch auch einen Namen, oder?“ Dagegen konnte ich schwerlich etwas
vorbringen. Stattdessen bat ich um weitere Informationen und erfuhr:
„Dem Formalhuhn werden geradezu übernatürliche Fähigkeiten nach-
gesagt.“ Eigentlich suchte ich nur ein pf legeresistentes, dankbares Haus-
tier, damit ich mich in meiner Wohnung weniger allein fühlte. „Da sind
Sie mit diesem Modell bestens bedient“, entschied der Verkäufer, und
ich kaufte das Formalhuhn samt Käfig.
Zu Hause versuchte ich, mit meinem neuen Hausgenossen zu
kommunizieren, bekam aber nur monotone Geräusche zur Antwort.
Mir kam der Verdacht, einen Fehler gemacht zu haben. Ich beschloß,
den Kauf am nächsten Tag rückgängig zu machen, bedeckte den Käfig
mit einem Tuch und ging schlafen. Mitten in der Nacht weckte mich
eine Stimme – jemand sprach in meiner Wohnung! Verunsichert stand
ich auf, um der Sache nachzugehen. Bald war mir klar, daß es der Vogel
unter dem Tuch war, der folgendes redete: „Nach jahrelangem Studium
der Genveränderung bei Kochtöpfen in Waldhaushalten wurde eine
Doktorandin ans Sterbebett ihres Doktorvaters gerufen. Der nannte ihr
das Thema ihrer Doktorarbeit: Der Füllhahn bei der Formalbekehrung
des Huhns nach argentinischem Recht. Die Aufgabe der Doktorandin
bestand nun darin herauszufinden, was dieses Thema bedeutete. Sie
fand, ihr Doktorvater sei diesmal zu weit gegangen. Bevor sie es ihm in
aller Entschiedenheit verdeutlichen konnte, wurde sie von der Pf legerin
hinausgeführt. ‚Beeilen Sie sich bitte mit der Auf lösung‘, sagte die Frau
streng zu ihr, er möchte gern in absehbarer Zeit sterben.‘ Die Dokto-
randin protestierte: ‚Wie soll ich denn jemals herausfinden, was Der
Füllhahn bei der Formalbekehrung des Huhns nach argentinischem
Recht bedeutet?“ Die Pf legerin beruhigte sie: ‚Ach, das geht doch noch.
Seien Sie froh, daß Ihr Thema nicht lautet Ein Reeperbahngottlötstör
mit biologischen Frauenrückmeldemerkmalen!‘ Die Doktorandin gab
ihr Recht. Dann zog sie los, um ihre Aufgabe zu lösen...“
Ich hob die Decke an und sagte zu dem Vogel: „Entschuldigen
Sie bitte, aber ich möchte jetzt schlafen.“
„Dann zeigen Sie mir doch mal Ihren Schlafbedarfsausweis!“
erwiderte er in Polizistenmanier.
kittihawk