OnlineItalien 11.2022

ITALIEN 15 D I E P H Ä N O M E N E D E S D R . D U D R O P Die Rede-Schau, üblicherweise und international „Talk-Show“ genannt, ist ein Geschehnis im Horizont des Fern-Sehens. Fern-Sehen heißt Schauen aus der Ferne. Zu-Schauer*innen sitzen vor einem rechteckigen Gerät („Bildschirm“) und schauen auf dessen Oberfläche. Dort spielen sich erstaunliche Dinge ab, die den Schauer*innen den Eindruck vermitteln, sie seien bei einem in der Ferne stattfindenden Ereignis selbst vor Ort. Während des Schauens können Snacks und alkoholische Getränke verköstigt werden, man kann in der Unterwäsche herumsitzen, die Beine auf den Couchtisch legen und sich ungeniert im Schritt kratzen. Solchermaßen vorbereitet und beflügelt vom Gefühl persönlichen Engagements nehmen die Schauer*innen auch an den Rede-Schauen teil. Dort wird über das geredet, was in der Welt so los ist. Artig sitzen einige Plauder-Taschen bei einem Drink unklarer Art zusammen. Dazu laden die Rede-Meister*innen („Talkmaster*innen“) üblicherweise einige kompatible Damen und Herren ein. Im Laufe der Jahre hat sich dabei ein Syndikat schwadronierender Selbstdarsteller*innen herausgemendelt, das sich in wechselnder Besetzung mal diesem, mal jenem maßgeblichen Thema widmet. Voraussetzung für die Teilnahme an den illustren Runden ist eine möglichst exponierte berufliche Position oder skurrile Lebensgeschichte. Das Publikum wundert sich und denkt insgeheim „Donnerwetter, was es nicht so alles gibt“. Politiker*innen, die allzu rüpelhafte oder scheinheilige Attitüden an den Tag legen, werden von den TalkMaster*innen zur Ordnung gerufen. Das steigert den Unterhaltungswert. Als recht bizarr musste seinerzeit der Versuch des Donald Duck gewertet werden, der vor vielen Jahren den Ärmelkanal auf dem Rücken durchschwimmen wollte, während er mit dem Schnabel eine auf eine Makkaroni aufgesetzte Orange jonglierte. Mit diesem spektakulären Act beabsichtigte er, die Voraussetzung für jene Berühmtheit zu schaffen, die ihm den Weg in eine Rede-Schau ebnen würde. Der Duck’sche Versuch ging schief, die Orange fiel ebenso ins Wasser wie ein Auftritt im FernSehen. Im Vergleich mit solch überspannten Methoden der KandidatenKür kommt die Freak-Show des Baden-Badener „Nachtcafés“ mit weitaus durchschnittlicherem Personal aus. Talk-Master*innen kucken manchmal wohlwollend und manchmal skeptisch aus der Wäsche, bisweilen aber hämisch und arglistig. Immer jedoch erkundigen sie sich nach Dingen, die sie schon längst wissen – und zwar meist viel besser als die Gefragten. Auch müssen sie sich als Zuchtmeister*innen beweisen, damit ihnen ihre Quassel-Riege nicht entgleitet. Die sonntagabendliche und neuerdings schwer geliftete Talk-Masterin könnte man sich auch sehr gut in der Rolle einer Domina vorstellen, Peitsche schwingend, in Lack und Leder. Das scheint durchaus angemessen: gerade gewählte Volksvertreter*innen bedienen sich der Strategie, das Publikum mit endlosen Antworten auf nie gestellte Fragen zu triezen – wie in Kriminalfilmen, bei denen man ungeduldig auf Pointe und Mörder*innen wartet. Oder beim Sex, wenn man den Höhepunkt sadistisch verhindert („edging“). Irgendwie haben die Rede-Schauen etwas mit der SM-Szene zu tun. Ohnehin besteht die Qualifikation der Rede-Meister*innen in der Fähigkeit, den Flow des Gegenübers zu unterbrechen. Gern wird das mit dem Wunsch begründet, man wolle doch „nur verstehen“. So sprach ein Herr kürzlich in einer Rede-Schau von „150 Millionen Gigawatt“. Der Schauleiter unterbrach ihn umgehend, er wolle „nur verstehen“, was „150 Millionen Gigawatt“ seien, es höre sich bombastisch an, aber er verstehe es nicht. 100 Milliarden Sandkörner, das kann man verstehen, das ist ein mittelgroßer Eimer voll Sand. Aber 150000000 Gigawatt? Auf jeden Fall ist es scheiße viel. Wenigstens trägt eine Zahl wie 150 Millionen nach Tages-Schau und Krimi erfolgreich zur Wahrung des allabendlichen Aufgeregtheitsniveaus bei. Auch an Samstagen finden Rede-Schauen statt, die ZuSchauer*innen wollen schließlich nicht nur unter der Woche darüber informiert sein, was sich in der Ferne alles ereignet. Was jedoch in der Nähe passiert, mit dem Ehegespons, dem Hund oder dem sich im Internet tummelnden Nachwuchs, das fällt da schnell hinten herunter. Dort wird es dann wiederum von den sozialen Medien aufgesammelt und in unappetitliche Rede-Schauen so genannter Influencer*innen transformiert. Dennoch, in Wuppertal gibt es noch Alternativen. Denn die Aktivist*innen des WDR von der Friedrich-Ebert-Str. 55 üben sich weiterhin in überzeugenden Kontrastprogrammen wie bspw. zu Themen der heimischen Fauna und Flora zwischen Heiligenhaus und Engelskirchen: Schau’n Sie sich doch einfach mal so was an, das weitet den Horizont ganz enorm. Buch Jule H e u t e : Z u r P h ä n o m e n o l o g i e d e r R e d e - S c h a u Falk Andreas Funke, Gedichte Juliane Steinbach, Holzschnitte Laubsägefisch/ Maritime Seelen Selbstverlag Format 24 x 31 cm 40 Seiten 45 Euro Auflage 200 ISBN 978-3-9824801-0-7 steinbach@kuester-steinbach.de Jorgo Schäfer Watching With My Ears 20 Years Vision Festival, NY (ein Bilder-Lesebuch) Format 24 x 29 cm 60 Seiten 39 Euro Auflage 150 ISBN 978-3-9824801-1-4 jorgo@jorgo-art.de Jorgo Schäfer Watching with my Ears 20 Years Vision Festival New York Jorgo Schäfer Watching with my Ears 20 Years Vision Festival New York N E U ! N E U !

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