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12 I

TAL

IEN

WattLöpptin

NYC

vonStephenOldvoodel

A l l A c c o u n t e d F o r : D e r A c h i l l e s

Tr a c k C l u b

Der erste Novembersonntag ist im Kalender der Stadt für den

Marathon reserviert, und weil sich New York nicht gerne lumpen lässt,

rühmt man sich mittlerweile des größten Marathons weltweit: mehr als

52.000 Läuferinnen und Läufer lassen sich in aller Herrgottsfrühe mit

Bussen zu Fort Wadsworth bringen. Das ist in Staten Island, gleich ne-

ben einem riesigen Platz, auf dem man an 364 Tagen im Jahr die Gebüh-

ren für die Verrazano-Narrows Bridge entrichtet. 16 Dollar, die Zufahrt

nach Brooklyn hat ihren Preis.

Der Marathon beginnt in Staten Island, weil alle fünf Stadtbe-

zirke was von dem Großereignis haben sollen und natürlich auch, damit

man als kleiner Mensch mal das erhebende Gefühl genießen kann, die

größte Hängebrücke der USA in heftige Schwingungen zu versetzen.

Das Schwingen beginnt kurz nach dem Start, wenn sich die

allermeisten Körper in eine Trittfrequenz haben fallen lassen. Mehrhei-

ten sind äußerst attraktiv, und wenn dann kaum einer mehr gegen den

allgemeinen Tritt sich bewegt, dann kommen Schwingungsamplituden

von locker zwei Meter zustande. Die Brücke kann das offensichtlich ab

und mitten auf der Brücke, keine Meile nach dem Start und am höchsten

Punkt der Strecke halten sich die Schwingungs-Fans ganz dicht an den

Geländern, denn dort kann man pausieren und das Ganze genießen. Der

Anschluss an die Spitzengruppe ist dann ohnehin perdu, aber wer läuft

schon in New York auf Zeit. Dabeisein ist alles. Nach Norden die 4th

Avenue und dann die Bedford Avenue entlang, durch Kieze mit Namen

wie Bay Ridge, Sunset Park, Park Slope, Bedford-Stuyvesant, Williams-

burg oder Greenpoint, vorbei an den verschiedensten Bevölkerungsgrup-

pen und den ebenso verschiedenen Arten, am Marathon teilzuhaben.

Die Afro-Amerikaner in Bedford-Stuyvesant bieten Ananas und Mango

an – Bananen gibt‘s vom Veranstalter, dem New York Road Runners

Club – und mit vorwiegend synkopierter Musik treiben sie die Läufer-

schritte heimlich auf höhere Frequenz. Bei den chassidischen Juden in

Williamsburg kann sich aber der Puls wieder beruhigen, denn dort bil-

den die Bewohner ein stummes, wenn auch sehr dichtes Spalier aus Grau

und Dunkelblau. In Greenpoint bieten polnische Bewohner mit sehr viel

Sinn für‘s Praktische Vaseline für den Schritt und die Achseln, während

eher szenige Bohemians mit Sinn für Symbole sich den Spaß erlauben,

einem Bier der Marke Yuengling anzubieten.

Man merkt es kaum, doch schon bald ist die Pulaski Bridge

und damit bereits die Mitte der gesamten Strecke erreicht. Ein Schlenker

über Queens und die Queensboro Bridge, und schon kommt man nach

Manhattan auf die First Avenue, wo einen die selbe Ticker-Tape- und

Konfetti-Parade erwartet, wie sie 1927 Charles Lindbergh gesehen hat.

Die letzten zehn Meilen dürften dann für die Allermeisten nur noch

ein Klacks sein. Die First Avenue rauf, über die Willis Avenue Bridge

zu einem Schlenker durch die Bronx, dann über die Fifth Avenue durch

Harlem und schließlich in den Central Park, wo an Tavern on the Green

schließlich die Ziellinie wartet. Auf die Spitzenläufer wartet sie gut zwei

Stunden. Einigermaßen trainierte Menschen brauchen zwischen drei-

einhalb und viereinhalb Stunden. Wer achteinhalb Stunden nach dem

offiziellen Start – dann ist es 18.10 Uhr und bereits stockfinster – noch

nicht bei Tavern on the Green eingetroffen ist, der wird ein Fall für den

Achilles Track Club. Wie der Name schon sagt, die Leute von Achilles

sind für Inklusion verantwortlich und weil die Inkludierten besonders

häufig die Achteinhalbstundenmarke reißen, ist der Track Club nach

dem Rennen auch für das Einsammeln derjenigen zuständig, die zwar

ihren Läuferchip über die Startlinie bewegt haben, aber Tavern on the

Green aus irgendwelchen Gründen nicht haben erreichen können. Man

ahnt, es gibt der Gründe viele. Blasen an den Füßen, ein spannendes

Footballspiel in einer Kneipe, Magen-Darm-Geschichten, die Frage “wa-

rum mache ich das nur?”, die Aussicht von einer der vielen Brücken des

Marathons, was auch immer. Alle fünf Kilometer werden entlang der

Strecke elektronisch alle Vorbeiläufer in einer Datei vermerkt, so dass

den Leuten von Achilles um 18.10 Uhr eine vollständige Liste überreicht

werden kann, wer zuletzt wo registriert worden war. Das vereinfacht die

Suche beträchtlich und bereits zur Tagesschau sind die allermeisten der

verlorengegangenen Schäfchen aufgespürt. Doch in jedem Jahr gibt es