OnlineItalien 01.2024

ITALIEN 7 Patrons in the Nosebleed Section Bach in der Carnegie Hall Am 25. Oktober stieg der Himmel hinab nach New York und brachte mit den English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir unter dem Dirigat von Dinis Sousa die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach auf die Bühne der Carnegie Hall. Sir John Eliot Gardiner stand nicht am Pult. Er hatte wenige Wochen zuvor einem Solisten eine geballert. Den Konzertbesuchern war das egal. Sie wollten zu den Engeln im Himmel, befreit von den Lasten körperlicher Gebrechen, seelischer Pein und der Gewissheit des eigenen Todes beim Kyrie den Tränen freien Lauf lassen dürfen und sie schleppten sich dafür auch gerne die vielen Treppen zu den billigeren Plätzen des Stern-Auditoriums hoch. Kinder des Olymp, les enfant de paradis oder – nüchtern wie die Angelsachsen nun mal sind – patrons in the nosebleed section, sie alle waren spätestens beim Agnus Dei durch das Miteinander von Mühen und Leichtigkeit verzückt, das das menschliche Leben kennzeichnet. Was das menschliche Leben auszeichnet, ist Forschungsgegenstand der Anthropologie. Die in der American Anthropological Association organisierten Fachleute versammelten sich zu ihrer Jahrestagung im November im Jacob K. Javits Convention Center auf der Westseite Manhattans, knapp fußläufig von der Carnegie Hall. Das Thema der Tagung war „Transitions“, also die vage Vermutung, die Menschheit könne sich in einer Art Übergangszeit befinden. Das tut sie wahrscheinlich chronisch, aber irgendein Motto braucht auch die Anthropologie und möglicherweise hatte es akut was mit Künstlicher Intelligenz zu tun. Menschliche Intelligenz und ihre Grenzen konnten die Tagungsteilnehmer auf dem Messeteil beobachten und sie konnten sogar an einem größer angelegten Versuch selber partizipieren. Heißer Kaffee wird bei Veranstaltungen in Tagungszentren knappgehalten und entsprechend teuer. Gelegentlich kauft aber ein Aussteller einen Wagen mit Kaffee, damit er Fotos vom dichten Gedränge an seinem Messestand ins Internet stellen kann. Dann wird der Kaffee alle und nach den letzten Tropfen versammeln sich nur noch leere Pappbecher vor den Kannen. Man erkennt auf den ersten Blick: Hier ist kein Kaffee mehr zu haben und dennoch reißen die Versuche nicht ab, den Kannen doch noch einen Becher heißen Kaffees entreißen zu können. Das geht über Stunden, sogar Tage und im November brüteten Anthropologen über der Frage, was im Menschen wider dem klar erkennbaren Anschein „Kaffee ist alle“ die Hoffnung am Leben erhält: „Da ist doch bestimmt noch eine Tasse heißen Kaffees für mich übrig.“ Der menschliche Verstand ist energetisch sehr aufwändig und kann eigentlich nur mit Hilfe von Bratkartoffeln funktionieren. Was hingegen der evolutionäre Vorteil des menschlichen Optimismus im Angesicht offensichtlich leerer Kaffeekannen sein soll, für eine Antwort auf diese grundlegende Frage hätten die Anthropologen nur ein Blick in das Programmheft der am 25. Oktober aufgeführten h-Moll-Messe gebraucht. Dort stand etwas von der Gewissheit und Unausweichlichkeit des Todes und der christlichen Botschaft von der Überwindung desselben und damit auch vor der Angst vorm Sterben. Das reicht freilich nicht, denn auch ohne Angst könnte man ja einfach nur auf den Tod warten. Dem setzt Bach Musik entgegen, Musik teilweise so schön, dass sie zeitlos wird und das endliche Diesseits transzendiert. Auf diese glücklichen Momente dürfen wir immer vertrauen, selbst wenn da mal kein Kaffee mehr in der Kanne und das Leben eher breit als lang geworden ist.

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