6 ITALIEN Stranded: Denkmalschutz bedroht eine New Yorker Institution Michael Erman Kim ist zur Hälfte Koreaner, zu einem Viertel Türke und zu 100% discophil. Discophilie ist die schöne Schwester der Bibliophilie und weil schöne Schwestern gerne auch nett sind, begleitete Michael seinen Papa oder auch Onkel Henry – aus dem englischen Zweig des Stammbaums – des Häufigeren mal in den einzig in Manhattan noch verbliebenen Tempel der Bibliophilie, den Strand Bookstore auf der Ecke 12. Straße und Broadway. Der Block war früher mal reich gefüllt mit Antiquariaten, Buchkunsthändlern und Publikum mit entsprechend erlesenem Geschmack. Früher war halt alles besser, war mehr Lametta. Das kleinstädtische, schmuddelige Village der 1970er Jahre ist längst verschwunden, verdrängt von gesichtslos geschrubbten Apartment-Komplexen und neuen Luxus-Hochhäusern. Zwischendrin ein Starbucks und viele leerstehende Gewerbeflächen, deren Pacht sich vielleicht noch Juweliere oder Boutiquen leisten könnten. Doch die sind woanders. Michael ist auch sonst derzeit häufiger in der Gegend und das hat mit seinem Job in der Landmarks Preservation Commission der New Yorker Stadtverwaltung zu tun, also dem Amt für Denkmalschutz. Dort hat man in der Vergangenheit des Öfteren gepennt und so ist die damals wunderschöne Pennsylvania Station abgerissen und durch den Madison Square Garden ersetzt worden. Das ist aber „spilled milk under the bridge“ und wir wollen nicht nachtragend sein. Der Denkmalschutz denkt zurzeit heftig darüber nach, ob nicht das von William Birkmire nach Vorbildern italienischer Palazzi entworfene und 1902 fertiggestellte Gebäude mit der Postanschrift 828 Broadway in das städtische Register schützenswerter Objekte aufgenommen werden muss. Auf den ersten Blick: keine Frage, ja und bitte sofort, unverzüglich, dass nur kein Developer auf dumme Gedanken kommt. Die zweite Meinung gehört Nancy Bass Wyden. Sie ist Eigentümerin des Strand Bookstore in dritter Generation und mit dem Geschäft in 828 Broadway beheimatet. Ein arg margenschwaches Geschäft, das von gewerkschaftlich organisierten und entsprechend teuren Mitarbeiter*innen am Laufen gehalten wird, auch noch mit den Erfordernissen des Denkmalschutzes zu belasten, würde Strand Bookstore stranden und verenden lassen, so Wyden. Das will keiner, auch nicht Michael. Er hat sich jüngst in den Seiteneingang auf der 12. Straße verliebt, dort wo die Regale stehen mit den Büchern zu einem Dollar pro Stück. Das sind hunderte Regalmeter und der eilige Passant fragt sich: Wo kommt denn der ganze Kram her? Der weniger eilige Passant – und dazu gehörte Michael auf seiner beruflichen fact finding mission, sie fand an einem Samstag statt – sieht auf der 12. Straße auch den Eingang zum Seller’s Desk von Strand. Da kann man an drei Tagen in der Woche das anbieten, was fast schon vergessen im eigenen Regal schlummert, was Verlage so an Rezensionsmaterial rausgeben oder was in den Lobbys der Luxus-Hochhäuser „zum Mitnehmen“ auf dem Sims steht. Trotz zahlreicher Tresen hinter der Tür bilden sich vor der Tür schon mal längere Schlangen von Leuten, die den Charme des Village aus den 1970er Jahren wiederaufleben lassen. Eklektisch gekleidet, vor Interessanz und Intelligenz sprühend, neugierig und auf einen Schwatz aus, weil man ja eh ein Weilchen warten muss. Michael stellte sich mit in die Schlange, obgleich er nichts anzubieten hatte. Ob er Künstler sei, Musiker oder Schauspieler? Jedenfalls sähe er einem Bild in der Village Voice aus den späten 1980ern ähnlich. Nein, nur Angestellter bei der Stadt, aber wohl vertraut mit dem Strand, dank Papa und Onkel Henry. Seit jenem Samstag ist Michael nicht mehr so sehr davon überzeugt, dass 828 Broadway dem Denkmalschutz unterworfen werden müsse. Ach, und die Regalkilometer mit den Büchern für einen Dollar? Sie füllen sich, weil kaum jemand die Bücher, die Strand nicht kaufen möchte, wieder mit nach Hause schleppen möchte. Das ist wohl bei zwei Dritteln des Angebots der Fall und diese Bücherspenden landen draußen zum Mitnehmen auf dem Dollarregal.
RkJQdWJsaXNoZXIy NDk1NjA=