ItalienOnline 0708/2014 - page 17

I
TAL
IEN 15
h A R R Y v o M h o M b ü C h e L
Wa l d
v o n E u g e n E g n e r
Ein Fremdkörper im Mund beim Toastessen bewirkte, dass
ich mich zu Fuß in einer Straße wiederfand, die ich seit gut dreißig Jah-
ren nicht mehr aufgesucht hatte. Naturgemäß traf ich alles stark – doch
kaum zum Vorteil – verändert an, sogar das Umspannwerk war entfernt
worden. Wo mochten die Anwohner nun wohl ihren teuren Strom um-
spannen? Vielleicht in dem kleinen Wald am oberen Ende der Straße?
Ob es den kleinen Wald überhaupt noch gab?
Das wollte ich gern untersuchen, denn die Frage erschien mir
aus einem weiteren Grund bedeutsam: Falls es den Wald nicht mehr
gäbe, was wäre dann aus dem Reisebusunternehmen geworden, das sich
dort einst aus Gründen der Angst versteckt hatte? Die Angelegenheit
war aufregend. Entsprechend aufgeregt lief ich die Straße hinauf, wobei
ich unablässig „uh jä, uh jä“ rief. Es lohnte sich. Oben angekommen,
sah ich wahrhaftig, ganz wie früher, besagten Wald vor mir. Er machte
einen überraschend unveränderten Eindruck. Ob er mich erkannte? Ich
betrat ihn, wenn auch nicht so experimentell gesinnt, wie ich es in frühe-
ren Jahren getan hatte, so doch mit unverkennbarem Interesse. Letzteres
förderte bald zutage, wie sehr sich der kleine Wald in seinem Inneren
treu geblieben war. Ich staunte!
Ganz in der Nähe des großen Erdlochs, das an derselben Stel-
le wie ehedem klaffte, fand ich dann das Reisebusunternehmen. Nach
dreißig Jahren versteckte es sich noch immer hier! Wie groß musste sei-
ne Angst sein! Um ein Haar hätte mich die Rührung des Wiedersehens
zu Tränen hingerissen.
Die alberne braune Arzttasche, die ich früher zu tragen pfleg-
te, materialisierte sich unwillkürlich wieder an meiner rechten Hand, so
dass ich sie verärgert in das Erdloch schleuderte. Der Trampelpfad und
die ihn säumenden Pflanzen sahen nach wie vor zum Verrücktwerden
aus, die „Uh jä“-Rufe waren mir glücklicherweise vergangen. So weit
ich erkennen konnte, wurde in dem Wald keinerlei Strom umgespannt.
Reisebusse standen im Schatten unter den voll belaubten Bäumen he-
rum; das Reisen schien in den Jahrzehnten des Versteckens von ihnen
abgefallen zu sein. Der Inhaber des Unternehmens graste versonnen auf
einer Schneise.
Leutselig ging ich auf ihn zu, grüßend und leise schwatzend.
Sich in den Hüften hebend, grüßte der Grasende zurück. Mit vollem
Mund sprach er von früheren Reisen, von menschengefüllten Bussen
und der großen Angst, die schließlich dazu geführt hatte, dass man sich
hier versteckte.
Später kam seine Frau, eine freundliche ältere Dame, von ei-
nem der Bäume herunter. Sie lud mich ein, zum wöchentlichen Insek-
tenrennen rund um das Erdloch zu bleiben. Das Rennen wurde von
einer Brotfabrik finanziert, Toastscheiben waren als Botschafter des
guten Willens längs der Rennstrecke aufgestellt worden. Ja, es gab sogar
eine Wettannahmestelle, und ich setzte meinen ganzen Wochenlohn
auf die Motten. Die Spannung stieg, schon wärmten die konkurrieren-
den Wespen schnalzend ihre Fahrräder an.
rattelschneck
1...,7,8,9,10,11,12,13,14,15,16 18
Powered by FlippingBook