Background Image
Previous Page  6 / 17 Next Page
Basic version Information
Show Menu
Previous Page 6 / 17 Next Page
Page Background

6 I

TAL

IEN

DIEDERICHS „THE BERLIN NOT-BOOK“

L e b e n s e r h a l t e n d e

M a ß n a h m e n

Mitte November letzten Jahres kam es im Bundestag zu einer

bedeutungsschweren Debatte um Sterbehilfe versus Palliativmedizin –

in gewohnter Weise natürlich an der Realität vorbei. Denn die Fragen

stellen sich weitaus früher und sind erheblich vielschichtiger als ein ho-

hes Haus sich das so denkt.

Zum Beispiel der Fall Frank S. aus Schöneberg:

Der fröhliche Rentner Frank S. hat sich ein neues Knie basteln las-

sen, ist somit derzeit stark gehbehindert und zudem anfällig für Ge-

legenheitsgicht. So wie neulich als bei seinem Sparverein mal wieder

die obligatorische Weihnachtsfeier anstand. Bereits in der Vorphase des

großen Ereignisses geht bei seiner Kreuzberger Gehhilfe, dem Haupt-

stadtkorrespondenten von ITALIEN, dem Fachblatt für hochprozentige

Palliativmedizin, die Order ein, man möge ihm bitte drei Flaschen Rot-

wein mitbringen. „Aber achte darauf, dass keine sulfodischen Salze drin

sind“. Was zur Hölle ist das? Das große www. kennt nur sulfidische Sal-

ze; doch damit befindet man sich dann statt beim Wein- sofort im Berg-

bau. Auch eine Nachfrage bei der, in diesen Dingen eigentlich sachkun-

digen, Weinbergschnecke Sabine S. erweist sich nicht als zielführend.

Somit bleibt im wohlsortierten Supermarkt gleich um die Ecke nur ein

zeitraubendes Studium sämtlicher in Frage kommender Etiketten. Also

das Wandertelefon raus: Gibt´s nicht! „Na, dann bring Weisswein“. Al-

les wieder von vorn. Gibt´s nicht, selbst BioBio enthält Sulfite. Auch

die zwischenzeitlich hinzugezogene Supermarktfachverkäuferin ist rat-

los. Und so vergeht kostbare Lebenszeit. „Scheiss auf die Sulfite! Aber

trocken muss er sein. Da klappt das mit der Alkoholwirkung am Besten

– und darauf kommt es ja letztlich an“, knarzt der Rekonvaleszent. Kurz

steht dem pilsbiergestählten Berichterstatter jenes legendäre „Ich habe

fertig“-Interview von Giovanni Trapattoni vor Augen, als dieser 1998

bei Bayern München die Brocken hinschmiss: „SEGUUIIIN! (…) ist im-

mer verletzt. Was erlauben Seguin? (…) Muss respektieren die anderen

Kollegen!“. Doch es hilft ja nix. Laut der Definition der Deutschen Ge-

sellschaft für Palliativmedizin umfasst der Begriff „die aktive ganzheit-

liche Behandlung von Patienten“ und somit auch psychologische und

spirituelle Probleme: „Wünsche, Ziele und das Befinden des Patienten

stehen im Vordergrund“.

Verdammte Schlepperei.

Schließlich beim großen Event im Vereinsheim angekommen

umarmt die Frau Vorsitzende Manuela „Ela“ V. den Chronisten freudig

und flüstert ihm ins Öhrchen: „Danke Otto. Ohne dich wäre der doch

nie gekommen“. Der Sparverein heißt „Die Muppets“ und so benehmen

sie auch. Als des Rentners Gehhilfe ihm einen bunten Teller am Buffet

zusammenstellt und kurz nach dem Werkzeug Ausschau hält, fehlen

plötzlich diverse Fischstückchen – der Nebenmann grinst und kaut

munter weiter. Vor „Bärchen“ in Verbindung mit Alkohol wurde schon

im Vorfeld gewarnt. Dabei benimmt der sich eigentlich ganz ordentlich.

Als dies zu kippen droht, greift Heike B. so beherzt ein, dass „Bärchen“

kurz darauf seinen Sprit stehen lässt und entschwindet. Da Bier be-

kanntlich aber immer nur geliehen ist, kommt es im Erfrischungsraum

schließlich zu einem bedeutungsschweren Bartgespräch mit einem lusti-

gen Frisör. Er sei ja einer der ganz wenigen, der noch mit dem blanken

Messer arbeiten könne; aber das wolle heutigentags ja niemand mehr,

lädt er freundlich zu einem Besuch auf seinen Sessel. Bei Betrachtung

seines elektrorasierten Drei-Millimeter-Bartes ist das nachvollziehbar.

Das Ansinnen wird abgelehnt.

Um die ganze Sache fröhlich abzurunden gibt „Ela“ V. dann

auch schon mal das Datum für die nächste Weihnachtsfeier bekannt.

Mit Blick auf die gelichtete Reihe greiser Häupter erscheint dies etwas

gewagt – aber irgendwie ist das auch eine Art palliativer Behandlung.

Die ganze Diskussion muss also noch einmal ganz neu aufge-

rollt werden.