Background Image
Previous Page  9 / 17 Next Page
Basic version Information
Show Menu
Previous Page 9 / 17 Next Page
Page Background

I

TAL

IEN 9

E i n v ö l l i g u n b e k a n n t e s O r g a n

v o n E u g e n E n g e r

Auf einem Schwarz-Weiß-Abzug entdeckte ich ein unbekann-

tes Organ. Ich trug ihn treppauf zur Etage der Geschäftsleitung.

Es hätte wahllos irgendetwas oder auch alles nur Erdenkliche auf ein-

mal geschehen können, doch stattdessen flüsterte mir eine verstörte

Person ein Losungswort zu und nannte eine Adresse, an der ich es aus-

sprechen sollte. Die verstörte Person blickte wild um sich, dann äußerte

sie die Empfehlung, ich solle das Losungswort zu meiner eigenen Sicher-

heit lieber abändern. Daraufhin suchte sie das Weite.

Sobald ich etwas Zeit hatte, begab ich mich zu der genannten Adresse,

einem großen Firmengebäude. Ich betrat das Entree und nannte am

Empfang das (abgeänderte) Losungswort. Zehn Minuten später arbei-

tete ich in einem Fotolabor, das sich im Parterre des Gebäudes befand.

Erinnerungen an das Fotolabor habe ich keine außer der, dass dort eine

monströse, ständig zunehmende Unordnung herrschte. Gleichwohl

muss es auch ein Vergrößerungsgerät, Fotopapier und Chemikalien ge-

geben haben, um Schwarz-Weiß-Abzüge herzustellen, denn auf einem

solchen entdeckte ich eines Tages ein unbekanntes Organ. Ich trock-

nete den Papierabzug und trug ihn treppauf zur Etage der Geschäfts-

leitung. Mit rätselhaften Fotodingen ging man am besten gleich zum

Prokuristen, und das tat ich.

„Donnerwetter!“, rief er angesichts der Fotografie, die ich ihm vorlegte.

„Das ist ja ein völlig unbekanntes Organ!“ Er griff zum Telefon, wählte

eine Nummer und schrie in den Hörer: „Funke, sofort in mein Büro!“

Funke war der Firmenbiologe und hatte in den dreißiger Jahren über

schwere Löcher promoviert. Im nächsten Moment betrat er das Büro,

um die absolute Neuheit des abgebildeten Organs zu bestätigen. „Las-

sen Sie mir den Abzug hier“, ordnete der Prokurist an, „ich kläre das

und melde mich wieder bei Ihnen.“ Damit schickte er mich hinaus.

Als ich am nächsten Tag das Labor betreten wollte, fand ich die Tür

verschlossen und versiegelt. Also stieg ich treppauf, um an höchster

Stelle Erkundigungen zur Lage einzuholen. Aus den Worten des Pro-

kuristen ging hervor: Meine Zeit als Fotolaborant war vorüber. Die Fir-

menleitung entließ mich mit der Begründung, das Labor müsse wegen

tribünenartig überhandnehmender Unordnung aufgegeben werden,

und fand mich mit einer Kinokarte ab. Welch schnöde Art, mit mir

umzugehen, hatte ich doch über Wirtschaftsromantik promoviert!

Durch einen erstaunlichen Zufall begegnete ich viele Jahre später dem

inzwischen längst pensionierten Biologen Funke auf seinem Sterbebett

wieder. In der Absicht, vor dem Hinscheiden seine Seele zu erleichtern,

gestand er mir, die Geschäftsleitung habe seinerzeit ein Patent auf das

unbekannte Organ erworben und Unsummen damit verdient. Ich woll-

te mich für die Information bedanken, da sagte Funke: „Vielleicht kön-

nen Sie mir bei etwas helfen, das mich stark beschäftigt.“

„Ich will es versuchen“, meinte ich, „worum geht es denn?“

„All mein Leben lang frage ich mich schon, ob Backmünster Vollbrat

eine Kirche war oder ein Pionier der Wissenschaft. Wissen Sie es?“

„Ja“, erwiderte ich, „so nannte sich Rembrandt in der Mauser.“

B I L D E R , D I E W I R N I C H T V E R S T E H E N

V O N E R N S T K A H L