ItalienOnline 09/2014 - page 15

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Mein erster Zeichenschüler wurde mir morgens um drei von seinem Va-
ter gebracht. Es handelte sich um einen Notfall, der Bub musste unbe-
dingt und sofort im Zeichnen unterwiesen werden. Nachdem der Vater
ihn bei mir abgeliefert hatte, verabschiedete er sich schnell, um bis zum
Wecken noch ein paar Stündchen Schlaf zu bekommen.
Nun hieß es improvisieren. Es galt, im Handumdrehen einen Lehrplan
aufzustellen. Dabei kam mir zu Hilfe, dass ich früher einmal für ei-
nen Dr. Salfeld eine Trickfilmserie zeichnerisch hatte rekonstruieren
müssen, die er angeblich in einem geheimen Fernsehprogramm gesehen
hatte. Ich wiederholte also nun meinem Schüler, so gut ich konnte, die
Beschreibungen, die mir mein damaliger Auftraggeber gegeben hatte.
Der Notfall-Bub war glücklicherweise nicht renitent und versuchte brav,
meine Worte zu illustrieren. Nun ließ ich meinen Schüler wahrhaftig
Dr. Salfelds Serie noch einmal rekonstruieren! Ein hochinteressantes
Experiment! Mit Spannung erwartete ich, was dabei herauskommen
würde. Die Version des Schülers würde sich natürlich, schon allein
hinsichtlich der Technik, gewaltig von der unterscheiden, die ich selbst
damals angefertigt hatte. Ganz zu schweigen von seiner individuellen
Ausdeutung. Wir begannen mit den handelnden Charakteren der Se-
rie, ich beschrieb die Hauptfiguren.
Neugierig beobachtete ich den lautlosen Kampf meines Schülers. Er
mühte sich redlich ab, seine von meinen Worten erzeugten Vorstellun-
gen aufs Papier zu zwingen. Zunächst wollte es nichts werden, er radierte
viel und begann immer wieder neu, bis endlich die erste Figur entstand.
Ich staunte, wie ungemein vertraut sie mir vorkam. Bis auf winzige De-
tails wies sie eine enorme Ähnlichkeit mit der auf, die ich seinerzeit
selbst gezeichnet hatte. War meine Beschreibung als so zwingend anzu-
sehen? Ließ sie objektiv nur diese eine Visualisierung zu? Vielleicht war
es aber auch nur ein, wenn auch unwahrscheinlicher, Zufall. Ich musste
abwarten, wie der Junge den nächsten Charakter darstellen würde.
Wie beim ersten Mal hörte er mir aufmerksam zu und begann. Es war
wieder das Gleiche; man konnte glauben, er kopiere meine damalige
Version. Der Vorgang war unheimlich und wurde immer unheimlicher,
weil weiterhin alles, was sich das Kind abrang, im Großen und Ganzen
dem entsprach, was ich vor Jahren für Dr. Salfeld gezeichnet hatte.
„Hast du diese Figuren vorher schon einmal gesehen?“, fragte ich mög-
lichst gefasst meinen Schüler. Er sah mich entgeistert an und antwortete
auf die treuherzigste Art und Weise von der Welt: „Nein, die habe ich
doch gerade erst gemacht. „Und weshalb gerade so?“ forschte ich weiter.
Der Junge schien nicht zu verstehen, was ich von ihm wollte. Offenbar
glaubte er, sich gegen einen ungerechten Vorwurf verteidigen zu müs-
sen: „Ich hab alles genau so gemacht, wie Sie gesagt haben.“
Unbegreiflich, was für ein Spiel man sich da mit mir erlaubte! Ohne
mich auf Diskussionen einzulassen, schmiss ich den Kerl hinaus, legte
mich ins Bett und schlief.
Z e i c h n e r i s c h e r N o t f a l l
v o n E u g e n E g n e r
kittihawk
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