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I

TAL

IEN 7

Jetzt wieder mit

Drinnensitzen!

E l t e r n u n d K a t z e n

v o n E u g e n E g n e r

Die nächsten Verwandten sind nicht immer leicht auffindbar.

Manche verschwinden sogar auf mysteriöse Weise. Dann heißt es kreativ

werden. Was würde eine Person tun, die jemand auf die Idee gebracht

hat, ihre verstorbenen Eltern lebten vielleicht in einem anderen Stadtteil

weiter? Ist das nicht eine interessante Frage? Können Sie sich in eine sol-

che Lage versetzen? Strengen Sie sich bitte etwas an, egal ob Ihre Eltern

noch leben oder nicht. Nutzen Sie Ihre Fantasie!

Stellen Sie sich vor, Ihre verstorbenen Eltern seien Zoologen

gewesen, spezialisiert auf Katzen und Katzenartige. Eines Tages wären

die beiden von einem Institut beauftragt worden, an einem Projekt in

Malaysia zu arbeiten, um seriöse Erkenntnisse über die Existenz einer

Katzenart zu gewinnen, um die sich seit Menschengedenken grausige

Legenden rankten, während nur wenig Konkretes bekannt war. Ein paar

Spuren schienen so vielversprechend, dass es sich lohnte, zwei kompeten-

te Forscher darauf anzusetzen. Der wissenschaftlich begründete Nach-

weis für das Vorkommen einer neuen Gattung in freier Natur wäre eine

Sensation gewesen.

Ab und zu erhielten Sie, die Sie dies jetzt zur Übung Ihres Vor-

stellungsvermögens lesen, Briefe, selten auch Anrufe, von Ihren Eltern.

Selbstverständlich verlautete darin nichts vom Stand der Forschungen,

denn für die Mitarbeiter an dem Projekt bestand Schweigepflicht. Wohl

gab es aber Andeutungen, dass das Unternehmen problematisch war.

Dann kam lange keine Nachricht mehr. Schließlich erfuhren Sie vom

Institut, Ihre Eltern seien einer Krankheit erlegen. Der Vorfall wurde als

mysteriös bezeichnet.

Jetzt machen Sie sich auf, um Ihre Eltern in einem Stadtteil

jenseits der Bahnlinie zu suchen, weil jemand zu Ihnen gesagt hat: „Viel-

leicht leben deine verstorbenen Eltern auf der anderen Seite der Bahnli-

nie weiter.“ Der Stadtteil ist wahrlich nicht attraktiv, in einer derartigen

Umgebung können Sie sich Ihre Eltern nicht vorstellen. Doch wer weiß

schon, was Verstorbenen gefällt ... Bei Ihrer Suche gehen Sie unsystema-

tisch vor, wie Ihnen sehr schnell klar wird. Wie soll man so etwas aber

auch planen?

Auf Ihrer planlosen Suche bilden Sie sich nunmehr ein, soeben aus einem

Heim für schwachsinnige Kinder entflohen zu sein, weil Ihnen das eine

gewisse Aura und somit das nötige Selbstbewusstsein verleiht. Allerdings

müssen Sie vorsichtig sein und genau überlegen, wen Sie im Zusammen-

hang mit Ihrer fiktiven Identität ins Vertrauen ziehen.

Wenn nämlich jemand das Jugendamt informiert, riskieren

Sie, von der Polizei aufgegriffen und, da Sie Vollwaise sind, ins Heim

für schwachsinnige Kinder eingeliefert zu werden. Ihre Chancen, jemals

wieder freizukommen, wären, wie Sie sich vorstellen können, minimal.

Gehen Sie also lieber schweigend ans Werk und halten Sie die Augen

offen.

Doch selbst dann können Sie kaum ernsthaft erwarten, Ihre

Eltern gleich beim ersten Mal auf der Straße zu erblicken oder ihre Ad-

resse zu erfahren. Es bedarf schon mehrerer Anläufe. Halten Sie durch,

versuchen Sie es immer wieder. Katzen weisen Ihnen den Weg.

B I L D E R , D I E W I R N I C H T V E R S T E H E N

V O N E R N S T K A H L