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I

TAL

IEN 11

B I L D E R , D I E W I R N I C H T V E R S T E H E N

V O N E R N S T K A H L

Auf der Spur von dunklen Familiengeheimnissen gerät Poet

Golch in einen immer tieferen Strudel von, ja von was eigentlich?

Ein Dichter namens Golch wusste vor materieller Not nicht mehr, wie

es weitergehen sollte. In einer der Nächte, die er schlaflos am Abgrund

der Verzweiflung zubrachte, erschien ihm seine seit vielen Jahren tote

Mutter. Sie teilte ihm mit, er solle Inhaber des Wut-Verlags werden, der

ihrem Vater gehörte.

Das überraschte Golch, denn sein Großvater mütterlicherseits

wäre der Letzte gewesen, dem er je unterstellt hätte, in irgendeiner Wei-

se mit so etwas wie einem Verlag zu tun zu haben. Ungeachtet dessen

brachte ihm seine Mutter Straße und Hausnummer zur Kenntnis und

fügte hinzu, man erwarte ihn. Dann löste sie sich auf. Golch war des-

perat genug, um nach allem zu greifen, was Rettung versprach. Am fol-

genden Tag fuhr er daher in die Stadt und suchte die genannte Adresse

auf. Tatsächlich gab es dort, in der zweiten Etage eines großen Gebäudes,

einen Wut-Verlag. Als Golch sich am Empfang vorstellte, brachte man

ihn sofort zur Geschäftsführerin. Deren Anblick erstaunte ihn, denn die

Frau hätte seine Schwester sein können. Golch wollte etwas äußern, doch

sie bedeutete ihm zu schweigen. Über gewisse Dinge dürfe nie gespro-

chen werden, sagte sie. Mit der größten Selbstverständlichkeit reichte sie

ihm sodann etwas in Alufolie Gewickeltes. Es hatte ungefähr die Maße

eines dicken Taschenbuchs, war aber weicher und fühlte sich auffallend

warm an. Golch erhielt den Auftrag, es zu einem bestimmten, ein paar

Straßen entfernten Abfallbehälter zu bringen. Weil er das für ein not-

wendiges Ritual hielt, verließ er mit dem weichen, warmen Paket die

Geschäftsräume. Im Parterre traf Golch bei der gläsernen Eingangstür

auf eine fremdartig aussehende Person. Sie war anscheinend männlichen

Geschlechts und sehr dunkel, doch stellenweise – vor allem am Kopf

– mit gelbem Puder beschichtet. Verunsichert fragte er den deplatziert

wirkenden Fremden, ob er ihm helfen könne. Die Antwort bestand in

unverständlichen Lauten, die Aufregung und Ärger ausdrückten. Ruck-

artige Körperbewegungen unterstrichen diesen Eindruck.

Im nächsten Moment stand ein zweites, dem ersten in Aus-

sehen und Verhalten ganz ähnliches Wesen vor Golch. Es streckte ei-

Ü b e r n a h m e d e r Wu t

v o n E u g e n E g n e r

nen Arm gegen ihn aus und fuchtelte damit aggressiv herum. Bevor die

Lage sich weiter zuspitzen konnte, wurde die Glastür geöffnet, und ein

schmächtiges Mädchen kam herein. In seinen Händen hielt das Kind

einen langen, dicken Stock, mit dem es sogleich entschlossen auf die

bedrohlichen Gestalten einschlug. Mit einem Sprung war Golch bei der

Tür und gelangte ins Freie.

Froh, entkommen zu sein, machte er sich auf den von der Ge-

schäftsführerin beschriebenen Weg. An der nächsten Kreuzung kam

er jedoch nicht weiter. Der gesamte Block war von Sicherheitskräften

abgesperrt worden. Ein Polizist sprach von einem „ungelenken Weltun-

tergang“, der sich drüben „abspiele“. Es war nicht möglich, den Abfallbe-

hälter zu erreichen, und Golch warf das in Alufolie Gewickelte einfach

auf den Müll.