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I

TAL

IEN 9

B I L D E R , D I E W I R N I C H T V E R S T E H E N

V O N E R N S T K A H L

Wer einen Waldhaushalt besitzt, muss einer Dame, die des

Weges kommt und von Fischen aus dem Fluss mit Dreck beworfen wird,

Unterschlupf gewähren.Seit vierzehn Tagen hielt sich in unserem Ort

eine fremde Person auf, eine etwa dreißigjährige Frau. Zuerst war sie

von niemandem bemerkt worden, denn damals besuchten viele Auswär-

tige unseren Ort, um sich im Kunstmuseum das verschwundene Bild

anzusehen. Erst allmählich erkannten wir in jener Frau einen Dauer-

gast. Es wurde Zeit, sie zur Rede zu stellen. Die Aufgabe fiel mir zu, und

eines Dienstagnachmittags platzierte ich meinen Waldhaushalt so, dass

die Fremde auf ihrem Weg unweigerlich daran vorbeikommen, wenn

nicht sogar hindurchgehen musste.

In unmittelbarer Nähe verlief der Fluss. Die Fische saßen am

Ufer und warfen Dreck ins Wasser. „Seht euch diesen Mist an“, sagte

einer von ihnen. Die Fische machten Probleme. Bei uns war das Wasser

genormt, und wir wollten, dass es so bliebe. Doch obwohl wir es ihnen

streng verboten hatten, warfen die Fische dauernd Dreck hinein, wo-

runter die Norm litt. An besagtem Dienstagnachmittag warfen sie sogar

Dreck nach der Frau, als sie sich meinemWaldhaushalt näherte. Ich bot

ihr an, bei mir in Sicherheit abzuwarten, bis die Fische weiterschwam-

men. Notgedrungen kam sie herein. „Herrje, die vielen Bahn-Bilder an

den Wänden!“, rief sie aus. Ich erklärte ihr: „Als Kind wollte ich zur

Bahn, doch meine Eltern waren dagegen und sagten: ’Du kannst dir

Bilder von der Bahn ansehen. Das reicht.‘ Und so ist es bis heute geblie-

ben.“

Bevor ich die Frau fragen konnte, was sie in unserem Ort zu

suchen hatte, fing sie von allein an zu berichten: „Ich bin zur Beerdi-

gung meines Onkels hergekommen. Das war vor vierzehn Tagen, und

jetzt bin ich noch immer hier. Ist es denn richtig, dass mein Onkel täg-

lich wieder beerdigt wird?“ Woher sollte ich das wissen? Zufällig hatte

ich den Verstorbenen zur Hand, sogar lebend. In einer Kommoden-

schublade bewahrte ich ihn, etwa um zwei Drittel verkleinert, zwischen

allerhand Tüchern auf, so dass er es behaglich hatte. Infolgedessen

wirkte er immer etwas verschlafen, doch keinesfalls unzufrieden. Ich

E i n e f r e m d e F r a u i m O r t

zeigte ihn meiner Besucherin, und die beiden begrüßten einander wie

alte Bekannte, während der Dreck von draußen an die Fensterscheibe

klatschte.

„Mir geht es gut“, sagte der Onkel zu seiner Nichte, „fahr ru-

hig nach Hause. Die Menschen suchen nur etwas Zerstreuung, deshalb

bestatten sie mich so gern.“ Ich merkte altklug an: „Zerstreuung ist gut,

sollte jedoch nicht bis zur Pulverisierung gehen.“ Niemand lachte. Die

Frau fragte ihren Onkel, ob er ein Beruhigungs- oder Schlafmittel be-

nötige, er aber erwiderte, er könne auswendig schlafen. Nach einem

formlosen Abschied wurde die Schublade wieder in die Kommode zu-

rückgeschoben. „Gut, dass das nun zu Ende ist“, sagte die Frau. Mir fiel

weiter nichts mehr ein. „Die Fische sind fort“, stellte ich nach einem

Blick aus dem Fenster fest. In der nächsten Sekunde war auch die frem-

de Frau fort.

Erschöpft sank ich auf meinen Ruhesessel nieder. „Ich werde

jetzt ein Stück Schokolade essen“, sprach ich zu mir selbst, „das Leben

muss weitergehen.“