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I

TAL

IEN 11

B I L D E R , D I E W I R N I C H T V E R S T E H E N

V O N E R N S T K A H L

Der Vormund ließ sich nicht davon beeindrucken, dass Frank eine „Vi-

sion“ von dem hatte, was er werden wollte, sondern verordnete ihm kur-

zerhand die Ausbildung zum Ingenieur. „Zieh dich an, wir gehen aus“,

befahl der Vormund. Unterwegs wurde kein Wort gesprochen. Der Vor-

mund stürmte mit entschlossener Miene voran, Frank hielt widerwillig

Schritt, ohne zu wissen, wohin sie gingen.

Erst in den Straßenschluchten eines entfernten Stadtviertels machte der

Vormund halt. Sie betraten den übelriechenden Hausflur einer Grün-

derzeit-Mietskaserne und stiegen unzählige Stufen hinauf, bis es nicht

weiterging. Das Treppenhaus war an dieser Stelle schadhaft, der darü-

berliegende Teil des Gebäudes mit Balken und Stahlträgern abgestützt.

Ohne zu zögern hängte sich der Vormund, in Hut und Mantel, wie er

war, an eine quer verlaufende Metallstange und bewegte sich durch Wei-

tergreifen der Hände seitwärts, bis er genau über dem gewiss vier Stock-

werke tiefen Abgrund zwischen den umlaufenden Treppen baumelte.

Vor den Augen seines Schützlings begann er alsdann, vor und zurück zu

schwingen, dazu rief er laut um Hilfe. Es war früher Abend, weshalb die

meisten Mieter zu Hause waren und nun neugierig aus ihren Wohnun-

gen kamen. Der Vorgang war Frank entsetzlich peinlich. Es wurde laut

geschimpft und gefragt, was der Unfug zu bedeuten habe.

„Wie kommt ein feiner Herr wie Sie auf so etwas?“ – „Aus Kummer über

mein Mündel, den jungen Mann hier oben auf der Treppe“, erwiderte

der Vormund. „Wenn er wollte, könnte er mich durch ein einziges Wort

retten; er allein trägt die Schuld, wenn ich in den Tod stürze.“

Einige Männer kamen mit Seilen heraufgelaufen. Sie stießen Frank bei-

seite und bemühten sich, dem Vormund die Seile um den Leib zu schlin-

gen. „Hangeln Sie sich zur Treppe zurück“, riefen sie, „wir halten Sie.“

Der Vormund war damit nicht einverstanden: „Danke, meine Herren,

Sie sind zu freundlich. Ich muss Sie jedoch bitten, sich nicht einzumi-

schen. Es liegt allein bei meinem Mündel …“

Die Männer zogen ihn, ohne seinen Einwand zu beachten, auf die Trep-

pe zurück und banden ihn los. Dann drohten sie: „Nun macht aber bloß,

Ü b e r z e u g u n g s a r b e i t ü b e r m A b g r u n d

v o n E u g e n E g n e r

dass ihr wegkommt! Und wagt ja nicht, hier noch mal so was aufzufüh-

ren!“ Vormund und Mündel gingen schweigend heim. Am nächsten Tag

fragte der Vormund wieder: „Frank, mein Junge, wirst du die Ausbil-

dung zum Ingenieur absolvieren?“ – „Nein.“

Umgehend wurde die Mietskaserne aufgesucht, wo der feine Herr, dem

man so etwas gar nicht zutrauen mochte, dann wieder oben an der Stan-

ge hing und schrie. Diesmal erschien die Polizei, um der Vorstellung

ein Ende zu bereiten. Da Frank trotzdem widerspenstig blieb, wurde

die Übung noch einige Male wiederholt – ein Wunder geradezu, dass

er jedes Mal wieder mitging. Erst nachdem die Männer ihn und den

Vormund mit Stricken geknebelt über Nacht an der Stange über dem

Treppenhausabgrund hatten hängenlassen, gab er nach im kläglichen

Bewusstsein, Verrat an den eigenen Idealen zu begehen.